Corona und Dankbarkeit. Passt das zusammen? Für mich schon. Ich habe durch die Zeit der Coronapandemie eine ganz neue Dankbarkeit entwickelt.
Ich war kein undankbarer Mensch. Wirklich nicht. Ich war oft dankbar, wenn ich etwas ganz Besonderes erlebte. Als ich nach 250 Kilometer Wanderung auf dem Jakobsweg in Santiago de Compostela ankam und mit meiner Schwester vor der Kathedrale saß, war ich dankbar. Ich war tief beeindruckt von dem Weg, den ich gemeistert hatte, und von all den Eindrücken und Erkenntnissen, die ich gewonnen habe.
Ähnlich ging es mir bei beruflichen Erfolgen: Als ich im Alter von 30 Jahren meine erste Teamleitung übernahm, war ich sehr dankbar. Je größer die Erfolge, desto dankbarer war ich. Mein größter beruflicher Erfolg war die Position als Pressesprecherin der Berliner Gesundheitssenatorin. Für diese Chance war ich unglaublich dankbar. Und dann kam Corona. Auf einmal moderierte ich eine Pressekonferenz vor mindestens 10 laufenden Kameras. Die schreibenden Journalist:innen saßen bis in die Türrahmen, so voll war es. Wir erklärten, was es mit dem ersten Coronafall in Berlin auf sich hat, wie die Kontaktnachverfolgung und Isolation funktionieren. Ich war hochschwanger mit meinem zweiten Kind und hatte den Höhepunkt meiner Karriere erreicht, im Alter von 38 Jahren. Ich finde es nicht verkehrt, dass ich für all diese Erfahrungen dankbar war und auch heute noch bin. Ich habe unglaublich viel gelernt.
Heute, über ein Jahr später sehe ich einiges anders. Nach einem Jahr in mehr oder weniger hartem Lockdown. Nach einem Jahr, in dem meine jetzt sechsjährige Tochter mehr Zuhause war als in der Kita. Nach einem Jahr, in dem mein Mann und ich im Wechsel im Homeoffice und in Elternzeit waren. Nach einem Jahr, in dem wir uns sozial isoliert haben, keine Freund:innen getroffen haben, in dem wir einfach nur Zuhause waren. Heute wird mir klar: Ich bin auf einmal so dankbar für die kleinen Dinge im Leben. Und dann merke ich: So klein sind die Dinge gar nicht. Ich bin unglaublich dankbar für meinen Mann und meine Kinder, für den Frieden, in dem wir leben. Für den Wohlstand, für unsere Wohnung. Für die Sonne auf meiner Haut. Für das Rascheln der Bäume im Wind. Für die frische Luft, die ich einatme, wenn ich durch einen Park gehe. Für unsere Gesundheit.
Die Kita meiner Tochter fand ich immer großartig, keine Frage. Aber jetzt bewundere ich jede Erzieherin und jeden Erzieher, die tagein tagaus alles geben, damit unsere Kinder zusammen sein können, damit sie so viel lernen dürfen. Damit ich arbeiten darf. Damit ich diese Zeilen schreiben darf. Solche Dankbarkeit, wie ich sie der Kita meiner Kinder entgegenbringe, kannte ich bisher nicht von mir. Als die Kita geschlossen war, gab es Bildergeschichten für die Kinder. Der Pfarrer hat mit seiner Handpuppe Pelle kleine Videos gedreht und auf YouTube geladen. Wir saßen im 1. Lockdown – damals noch zu dritt – vor dem Laptop und haben zusammen „Gott hat alle Kinder lieb“ gesungen und geweint.
Auch ich frage mich, was Corona mit meiner großen Tochter macht. Sie ist sechs Jahre alt. Sie hat immer ihre Kinder-FFP2-Maske in der Tasche. Wenn es auf dem Spielplatz auf dem Klettergerüst zu eng wird, setzt sie sie auf. Sie hat mir gerade erst erklärt, dass sie den Rachenabstrich wirklich besser findet als den Nasenabstrich. Trotzdem geht sie tapfer zwei Mal die Woche zum Testzentrum. Das ist unser Deal, damit sie als Vorschulkind wieder in die Kita darf. Ich bin aber auch dankbar, dass ich eine so kluge Tochter habe. Ich bin übrigens auch sehr dankbar dafür, dass es diese Tests überall gibt, ebenso wie die FFP2-Masken.
Ich bin dankbar, dass Christian Drosten und Sandra Ciesek mir wöchentlich erklären, wie genau die Coronalage gerade ist und, was ich wissen muss, um mich und meine Familie zu schützen. Ich bin auch dankbar für den medizinischen Fortschritt in unserem Land. Ich bin Ugur Sahin und Özlem Türeci unfassbar dankbar für ihre Leistung bei der Entwicklung eines Impfstoffes. Als die Nachricht kam, dass mein Vater seine erste Impfung erhalten hat, saß ich mit meiner großen Tochter im Auto. Ich hatte gerade eingeparkt, als ich auf mein Handy schaute und sagte: „Opa ist geimpft.“ Meine Tochter: „Mama, weinst du?“ Ich: „Ja.“ Sie: „Das ist okay. Man darf auch mal weinen, wenn man glücklich ist.“ Ich: „Und, wenn man dankbar ist.“ Das ist eine völlig neue Form der Dankbarkeit.
Mittlerweile kennt jeder jemanden, der geimpft ist. Etliche meiner Freund:innen sind geimpft. Und auch ich bin erstgeimpft. Als der Brief in der Post war, dass die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in meinen Abrechnungsdaten eine Erkrankung festgestellt hat, die mich in die entsprechende Prio-Gruppe führt, war ich erstaunt. Aber eben auch sehr dankbar. Alles hat prima geklappt: Den Impftermin konnte ich online buchen, auf dem Gelände des Flughafen Tegel haben mich viele freundliche Helfer:innen geleitet, bis in Impfkabine Nummer 6. Der freundliche Arzt mit den grauen Haaren sagte zu mir: „Mein Name ist A. Ich würde Sie gerne impfen“. „Sehr gerne“, sage ich. Vielleicht ahnt er, was mir dieser Piks bedeutet. Es ist der Anfang vom Ende. Und zwar in der besten Art und Weise. In zwei Wochen bin ich zumindest zum Teil immun. Die Chancen stehen dann sehr gut, dass ich selbst bei einer Infektion mit dem Coronavirus keinen schweren Verlauf haben werde. Es geht also darum, dass ich zumindest an dieser Krankheit nicht sterben werde. Das ist eine Menge. Daher habe ich auch kein Verständnis für Impfgegner:innen. Dieses „Ich habe mich eingelesen, es gibt Argumente auf beiden Seiten“ ist Quatsch. Nein, es gibt keine Argumente gegen das Impfen. Wissenschaftlich ist ganz klar bewiesen, dass der Nutzen des Impfens die möglichen Nebenwirkungen überwiegt. Alles andere ist Geschwafel von Heilpraktier:innen und Esoteriker*innen. Da liest man sich nicht ein. Das klickt man weg.
Das muss den freundlichen Arzt in Impfkabine 6 im Impfzentrum Tegel nicht interessieren. Er erklärte mir alles, was ich über diese Impfung schon wusste und spritzt mir den Impfstoff in den Oberarm. „Viel Freude mit der Impfung“, sagte er zum Abschied. Wie recht er hat. In diesem Moment war ich natürlich dankbar, aber ich konnte mich noch nicht richtig freuen. Mein Mann hatte noch keinen Impftermin. Dann, als AstraZeneca für alle Altersgruppen freigegeben wurde, hat er seine erste Impfung bekommen. Es geht beim Impfen nicht nur darum, sich selbst zu schützen. Es geht auch darum, seine Mitmenschen zu schützen. Die Welt ist in einer noch nie dagewesenen Notlage. Dieser kleine Piks ist unsere Rettung. Ich hätte mir vor einem Jahr nicht vorstellen können, so dankbar darüber zu sein, gesund zu sein und zu leben. Diese Pandemie hat mein Leben verändert. Und ich habe mir fest vorgenommen: Diese neue Dankbarkeit werde ich beibehalten.