Kein Jahresrückblick

2024 ist einfach so vorbeigegangen und ich habe gar nicht auf das Jahr zurückgeschaut. Auch, wenn ich keinen kompletten Jahresrückblick geschafft habe, ein paar Erkenntnisse, bewegende Begegnungen und wichtige Instagram-Accounts sind zusammengekommen.

Ich liebe diese Jahres-Rückblicke bei Instagram. Jedes Foto zeigt einen anderen wichtigen Abschnitt im letzten Jahr der Person. Am Ende des Videos lächelt jemand glücklich in die Kamera, eine Wunderkerze in die Hand. Das alles schaffe ich nie. Aber ich habe gemerkt, dass das letzte Jahr – das Jahr in dem mein Buch erschienen ist – es doch verdient hat, noch einmal betrachtet zu werden.

Im April habe ich mein Buch bei der Buchpremieer vorgestellt. Es war ein sehr bewegender Abend. Foto: Stefan Wieland

Nichts hat 2014 so geprägt, wie mein Buch. „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen!“ ist am 14. April 2024 im Ullstein-Verlag erschienen, in einer wundervollen Reihe, die Wie wir leben wollen heißt. Gefeiert haben wir das bei meiner Buchpremiere im April (mehr Fotos hier). Dort habe ich auch das erste Mal aus meinem Buch öffentlich gelesen, was einfach krass war.

Bewegende Begegnungen

Im Laufe des Jahres habe ich mich aber daran gewöhnt, öffentlich aus meinem Buch zu lesen und über Gewalt in der Geburtshilfe zu sprechen. Auf meiner Lese- und Vortragstour durch ganz Deutschland habe ich vor Hunderten von Menschen gesprochen – wenn man sie alle addiert. Das ist schon ein besonderes Gefühl. Ich habe sehr intensive Begegnungen bei meinen Vorträgen und Lesungen gehabt. Einige davon möchte ich hier mit dir teilen.

Ein seltenes Foto von einem Vortrag. Hier in Wilhelmshaven war eine Kollegin zum Vortrag gekommen. Foto: Frauke Suhr

Zu Beginn meiner Vorträge frage ich immer, wer die Menschen sind, die da sind und, was sie heute herführt. Eine ältere Dame war an diesem Abend zur Volkshochschule in ihrer Kleinstadt in Süddeutschland gekommen, um sich Notizen für ihre Tochter zu machen. Diese sei schwanger und könnte heute nicht kommen, hat sie erzählt. Nach meinem Vortrag kam die werdende Oma zu mir und sagte: „Meine Geburt liegt dreißig Jahre zurück und heute habe ich erst verstanden, dass ich Gewalt bei der Geburt meiner Tochter erlebt habe.“

Genau dafür mache ich meine Arbeit. Dafür, dass Frauen nach gewaltvollen Geburten verstehen, dass sie nichts dafürkönnen, und, dass sie Opfer eines Systems geworden sind – auch wenn es schon Jahrzehnte her ist.

Zu meinen Vorträgen kommen neben betroffenen Müttern, immer auch Schwangere und Hebammen. Meistens sind es Hebammen, die in der Wochenbett-Betreuung arbeiten und sehr gut wissen, wie sich gewaltvolle Geburten auf die Gesundheit der Mütter auswirkt. Sie kommen oft, um mehr darüber zu erfahren, was diesen Müttern hilft. Und ich habe den Eindruck, dass sie auch kommen, um sich Bestätigung für ihre Entscheidung einzuholen, eben nicht mehr in Kliniken Geburten zu begleiten. Ich kann diese Entscheidungen sehr gut nachvollziehen, gleichzeitig ist es sehr schade, dass genau diese reflektierten Hebammen nicht mehr in den Kliniken arbeiten wollen.

Zu einem meiner Vorträge waren auch Hebammen gekommen, die im Krankenhaus tätig sind. Mir war bei einer von ihnen im Gespräch ein sehr ruppiger Ton aufgefallen. Sie erklärte mir gerade, dass Kaiserschnitte nicht stattfinden dürften, wenn sie nicht medizinisch notwendig seien. Ich lege in meinem Buch und in meinen Vorträgen ausführlich dar, warum eine selbstbestimmte Geburt so sein muss, wie die – gut informierte – Frau es möchte und, dass das natürlich auch einen geplanten Kaiserschnitt bedeuten kann. Als diese Hebamme so daher schimpfte, dachte ich mir schon, dass diese Haltung und dieser Ton bei der Geburt für die Gebärende sicher nicht gut sein kann, sagte das aber nicht. Ich war ja froh, dass die Hebamme gekommen war.

Am Ende des Vortrags saß eine von Gewalt in der Geburtshilfe betroffene Mutter weinend in der letzten Reihe. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Frauen weinen, wenn ich über das Unrecht spreche, das auch sie erlebt haben. Bei meinen Vorträgen und Lesungen darf geweint werden. Ich setzte mich zu der Mutter und erfuhr, dass die Hebamme, die ihr die Gewalt angetan hatte, heute hier war. Es war die ruppige Frau, die Wunschkaiserschnitte abgelehnt hatte. Ich war geschockt und ehrlich gesagt auch etwas überfordert. Die Mutter hat mich sehr beeindruckt. Sie sagte zu mir: „Immerhin ist die Hebamme heute hier.“ In Zukunft werde ich noch mehr darauf achten, dass meine Vorträge und Lesungen sichere Räume für von Gewalt in der Geburtshilfe betroffene Frauen werden.

Ramona war eine der Hebammenschülerinnen, die zu meinem Vortrag gekommen war und ein Foto machen wollte. Ich habe große Hoffung, dass Hebammen wie sie es anders machen werdne. Foto: privat.

Sehr bewegt hat mich auch ein Vortrag, bei dem vor allem Hebammenschülerinnen gekommen waren, viele von ihnen im ersten Semester. Diese jungen Menschen hatten sich schon vor ihrer ersten Praxisphase überlegt, dass sie mehr über Gewalt in der Geburtshilfe wissen wollten. Etliche kauften mein Buch, ließen es signieren und ich schrieb auf, dass ich mir sicher bin, dass sie ganz tolle Hebammen werden. Ich bin immer noch gerührt, wenn ich an diese Begegnungen mit den Hebammenschülerinnen zurückdenke.

In den vielen Interviews mit diversen Medien (hier ein paar Ausschnitte und Links) und Podcast, in denen ich zu Gast war (hier kannst du sie nachhören) wurde ich oft gefragt, welche Reaktionen mein Buch hervorgerufen hat. Ich erzähle dann zuerst von den vielen Mails und Nachrichten von Frauen, die ähnliches erlebt haben (ein paar davon habe ich hier online gestellt). Ich erzähle aber auch von den negativen Reaktionen, weil sie einmal mehr zeigen, dass wir ein echtes Problem im System Geburtshilfe haben.

Dieses war die erste Bewertung meines Buches. Sie ist an dem Tag veröffentlich worden, als mein Buch erschienen ist. Der Nutzer hat mein Buch also gar nicht lesen können. Das wollte er auch gar nicht. Ich vermute, dass es sich hier um einen älteren Herrn und vielleicht sogar Arzt handelt, der es einfach ein Unding findet, dass Frauen sich jetzt beschweren, wo ihre Kinder doch nach der Geburt am Leben sind. Denn das ist einer der größten Trugschlüsse in der Geburtshilfe, wie sie heute existiert: Es zählt einzig und allein das gesunde Kind. Was nicht zählt: Eine psychisch gesunde und unversehrte Mutter. Ich nenne diese nicht belegbare Argumentation die „Tote-Baby-Karte“. Es ist nämlich überhaupt nicht wissenschaftlich zu begründen, dass eine Frau traumatisiert werden muss, damit das Kind gesund ist. Es ist sehrwohl beides möglich, wie es die Chefärztin Mandy Mangler in meinem Buch erklärt. Die „Tote-Baby-Karte“ – also die konstante Androhung, dass dem Kind etwas passieren könnte – setzt Frauen völlig unnötig unter Druck. Ärztinnen und Hebammen, die damit arbeiten, verstehen nicht, dass Frauen auch bei der Geburt selbst über ihre Körper bestimmen sollten und, dass damit kein Kind gefährdet wird. Kinder werden sogar gesünder groß, wenn auch ihre Mütter gesund sind.

Für die ZDF-Mediathek habe ich meine Geschichte einer gewaltvollen ersten Geburt erzählt. Das ist mir wichtig, damit möglichst viele Frauen verstehen, dass sie für dieses Unrecht nichts können.

Welche teilweise absurden Sichtweisen auf Geburten in deutschen Geburtskliniken vorherrschen, durfte ich auch erneut erleben, als ich anfing, Klinikchefs in der Geburtshilfe Vorträge und Lesungen aus meinem Buch anzubieten. Viele haben sich gar nicht gemeldet. Aber ein Chefarzt einer Uniklinik antwortete. Der Mann hatte meinen Auftritt in der ZDF-Sendung Die letzte Bank gesehen. Ich erzähle darin von meiner gewaltvollen Geburt und den Folgen. Dieser Chefarzt fühlte sich daraufhin allen Ernstes dazu berufen, mir in einer sehr langen Mail zu erklären, warum ich keine Gewalt bei der Geburt erlbt habe und es das gar nicht gebe. Er hat alles aus der Ferne gerechtfertigt. Ein Arzt, der meinen Fall gar nicht kennt, nimmt sich die Zeit, mir dazulegen, warum ich im Unrecht bin, wenn ich sage, dass ich Gewalt bei der Geburt meines Kindes erlebt habe. Ein klassischer Fall von Medicineplaining, in Anlehnung an Mensplaining, nur eben von Medizinern ausgeübt.

Als ich dem Chefarzt erklärte, dass diese Mail genau zeigt, warum er und seine Mitarbeitenden dringend eine Sensibilisierung zur Gewalt in der Geburtshilfe nötig hätten, wurde er richtig ausfällig. So lange ich noch nicht auf der Anklagebank gesessen hätte, weil ein Kind bei der Geburt zu Schaden gekommen sei, dürfte ich mich seiner Meinung nach überhaupt nicht mehr über Geburten äußern. Nur gut, dass dieser Mann nicht entscheidet, worüber ich spreche und worüber nicht. Denn ich werde nicht aufgeben. Ich werde in 2025 weiter über Gewalt in der Geburtshilfe sprechen. Etliche Vorträge und Lesungen sind schon geplant – unter anderem in Berlin, Görlitz, Regensburg und Luxemburg (hier geht es zu allen Vorträgen und Lesungen). Ich bin mir ganz sicher, dass der ein oder andere Vortrag vor medizinischem Personal noch dazu kommen wird, denn ich weiß auch, dass nicht alle Chefärztinnen so verbohrt und unreflektiert sind, wie der, der mir geschrieben hat.

Community bei Instagram

Wenn ich das Jahr 2024 Revue passieren lasse, denke ich an vieles, dass auch ich in Sachen gute Geburten dazu lernen durfte.

Dabei haben mich einige Instagram-Kanäle sehr begleitet, die ich euch nicht vorenthalten möchte. Maresa Fiege begleitet als Hebamme Geburten auf ihrem Geburtshof in der Uckermark Unter @hebamme_maresa_fiege erzählt sie von ihrer Arbeit und gibt sehr schöne Einblicke in natürliche Geburten. Die Schwesterherzen Doulas arbeiten in München. Auf ihrem Instagramkanal @schwesterherzen.doulas klären die Schwestern Natalia und Sarah über viele Mythen und über die diversen Eingriffe in die Geburt auf. Als Ärztin und Aktivistin für eine gewaltfreie Geburtshilfe folge ich Mela unter dem Account @holistic.birth.doc.

Und natürlich gibt es noch viele weitere Kanäle mit nützlichen und wichtigen Informationen für selbstbestimmte Geburten. Auch wenn ich es nicht schaffe, wirklich aktiv zu posten, freue ich mich über die Community, die wir auf Instagram gibt. Mich findest du übrigens unter @frauhoegemann.

„Was gibt Ihnen denn Hoffnung?“ wurde ich neulich bei einem Vortrag gefragt. Die Frage war berechtigt, denn ich hatte gerade eine Stunde lang über Gewalt in der Geburtshilfe gesprochen – immer vor dem Hintergrund, dass werdende Mütter sie erkennen und sich wehren können und, dass betroffene Mütter verstehen, dass sie nichts dafürkönnen. Und trotzdem: Das Bild der Geburtshilfe, das ich gezeichnet hatte, war nicht gerade strahlend. Mir ist klar geworden, dass es sehr wohl Dinge gibt, die mir Hoffnung geben. Es ist die nachfolgende Generation, die mir Hoffnung gibt – sowohl bei den Eltern als auch bei den Hebammen. Junge Erwachsene blicken viel selbstverständlicher auf Selbstbestimmung. Ihnen leuchtet überhaupt nicht ein, warum sie nicht über ihre Körper bestimmen dürfen sollen, nur weil sie ein Kind bekommen. Und auch Hebammenschülerinnen lernen Geburten anders zu begleiten und wollen das auf den Stationen auch umsetzten. Ich hoffe sehr, dass sich dadurch Geburtskliniken langsam aber sicher ändern werden.

Autorin
Lena Högemann
Autorin, Podcasterin und Journalistin in Berlin, online und da, wo Aufträge sie hinführen. Lena freut sich, dass du da bist und mehr über sie und ihre Arbeit erfahren möchtest.