Seit zwei Jahren leben Familien unter enormen Stress und mit großen Unsicherheiten. Was hilft Eltern, was Kindern und Jugendlichen, mit den Folgen der Pandemie umzugehen?
Vor einigen Wochen, als meine sechsjährige Tochter mal wieder tobte und laut weinte, weil ihr die Hosen nicht gefielen, die für den Tag zur Auswahl standen, fragte ich mich: Ist das eine normale Phase in diesem Alter oder hat das vielleicht mit der Coronapandemie zu tun? Ich fühle mich in Situationen wie diesen hilflos. Wir kann ich meiner Tochter helfen, damit umzugehen, dass unser Leben seit zwei Jahren ein anderes ist. Eines, das ich mir selbst nie hätte vorstellen können.
Die Sorgen sind seit zwei Jahren immer da: Wird eines unserer Kinder an Corona erkranken, die eigenen Eltern, wir? Was passiert dann, wer geht mit wem in Quarantäne oder Isolation? Bleiben Kita und Schule auf, unter welchen Bedingungen? Es sind Fragen über Fragen, die mich täglich beschäftigen. Parallel dazu versuche ich wie viele Eltern den eigenen Anspruch zu erfüllen, bei der Arbeit wie immer alles zu geben. Das Leben als Eltern ist gerade besonders anstrengend.
„Die Familien müssen aus der Stressspirale rauskommen.“
Autorin und Neurobiologin Nicole Strüber
Ich spreche am Telefon mit Nicole Strüber, während sie die Einkäufe ins Haus trägt und bevor ihre nächste Zoomsitzung startet. Sie weiß, wovon sie spricht. Die Neurobiologin und Mutter von Zwillingen hat gerade das Buch „Coronakids“ veröffentlicht. Der Untertitel des Buches lautet: „Was wir jetzt tun müssen, um Kinder vor den seelischen Folgen der Pandemie zu schützen.“ Nicole Strüber erklärt: „Die Pandemie war für viele Kinder eine Zeit des starken Stresses, weil die Eltern gestresst waren.“ Die Folgen bei jedem Kind seien anders, erklärt sie. „Die Kinder können sehr ängstlich werden oder aufsässig.“ Als Neurobiologin weiß sie, welche Entwicklungsschritte das menschliche Gehirn auf dem Weg vom Baby zum gesunden Erwachsenen braucht. Genau diese Entwicklung sei durch die Einschränkungen der Coronapandemie bei Kindern und Jugendlichen teilweise unterbrochen worden.
Strüber sagt: „Die Familien müssen aus der Stressspirale rauskommen.“ Alle Kinder bräuchten jetzt feinfühlige Eltern. „Es geht darum, die eigenen Ressourcen und die der Familie zusammen zu kratzen. Unser Kind braucht uns jetzt mehr.“ Die Autorin weist darauf hin, dass Familien sehr unterschiedliche Ressourcen hätten, auf die sie zurückgreifen könnten. Es gehe auch um die eigene Prioritätensetzung als Eltern. Strüber rät, von der ToDo-Liste zu streichen, was nicht unbedingt sein müsse. Das könne das Dachbodenaufräumen, das 3-Gänge-Menü für die Schwiegermutter oder das Streichen des Gartenzauns sein. „Es geht darum, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen. Das ist trivial, aber das ist die Antwort“, sagt Strüber.
Ein Begriff, der mir in den Sinn kommt: Achtsamkeit. Der Begriff Achtsamkeit stammt aus der buddhistischen Lehre und Meditationspraxis. Es gibt unterschiedliche Definitionen. Zusammenfassen lassen sie sich so: Achtsamkeit beschreibt einen Geisteszustand, in dem ein Mensch sich voll auf die konkrete Situation, im Hier und Jetzt konzentriert. Es geht darum, das was ist, also die eigenen Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle sowie die direkte Umwelt, wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten.
„Wenn wir als Eltern für andere sorgen, verlieren wir uns schnell selbst.“
Familientherapeutin Anne Hackenberger
Beim Meditieren, beim Yoga, beim Wandern durch einen Wald kann ich achtsam sein. Ich weiß, dass mir das sehr guttut. Aber was genau bedeutet es jetzt, als Eltern achtsam zu sein? Die Familientherapeutin Anne Hackenberger, die auf Achtsamkeit in Familien spezialisiert ist, erklärt: „Wenn wir als Eltern für andere sorgen, verlieren wir uns schnell selbst.“ In für Eltern stressigen Situation schalte das Gehirn auf Autopiloten. Wenn beispielsweise der dreijährige Sohn sich weigerte, seine Schuhe anzuziehen, könne es passieren, dass Eltern enorm unter Stress geraten und das Gehirn auf den Überlebensmodus umschalte. Dann werde geschimpft und geschrien, obwohl das Kind, das sich nicht die Schuhe anziehen will, eigentlich keine Gefahr darstelle. In solchen Situationen rät Hackenberger, die selbst Mutter eines 10-jährigen und eines 13-jährigen Kindes ist: „Ich kann Abstand von der Situation gewinnen, indem ich mich auf meinen Atem konzentriere, meine Füße spüre, die auf dem Boden stehen.“ Das gleiche gelte für den Jugendlichen, der nicht mehr mit uns reden oder nicht mit uns am Tisch sitzen wolle.
Job, Kinderbetreuung, Quarantäne, das seien sehr hohe Anforderungen für Familien in der Coronapandemie. „Das ist nicht zu schaffen“, sagt die Familientherapeutin. Sie berichtet, dass genau diese Erkenntnis, dass es vielen Familien so gehe, vielen Eltern helfe. Ihr Appell an gestresste Eltern: „Es ist in Ordnung, sich verzweifelt zu fühlen. Es ist in Ordnung, sich Hilfe zu suchen.“ Neben Paar- und Familienberatung helfe es auch, sich mit anderen Eltern auszutauschen.
Ganz wichtig sei es, erklärt die Familientherapeutin, die Kinder nicht unter Druck zu setzen: „Eltern sollten ihre Ängste, die Kinder hätten zu viel verpasst in der Schule, nicht auf die Kinder übertragen“, sagt Hackenberger. Auch Neurobiologin Strüber kritisiert: „Ich sehe das ziemlich negativ, dass der Fokus so auf Bildung und mögliche Lernrückstände gerichtet wird.“ Viel wichtiger sei die Beziehung zu den Kindern und – je alter die Kinder sind – auch der Kinder untereinander.
Meine Tochter ist den ganzen Tag in Schule und Hort. Wie wird es da gehalten mit der Achtsamkeit, frage ich mich. Die Schulleiterin meiner Tochter erklärt mir per Mail: Es gehe vor allem um einen wertschätzenden Umgang miteinander. „Vieles was jetzt mit Achtsamkeit und Wertschätzung benannt wird, hieß vorher Hilfsbereitschaft, Höflichkeit oder eben bei den Religionen zusammengefasst Nächstenliebe“, schreibt sie. Dadurch lernen die Kinder aber nicht, wahrzunehmen, wie es ihnen selbst wirklich geht, denke ich.
Ich erzähle meiner Bekannten Farina Sophie Trautmann davon. Sie arbeitet als systemische Coach und Beraterin. Sie unterstützt Erwachsene, besonders Frauen dabei, sich im Einklang mit ihrem Bauchgefühl beruflich und persönlich weiterzuentwickeln. Sie hat selbst einen zweijährigen Sohn. Sie erzählt mir von verschiedenen Möglichkeiten, mit meinem Kind Achtsamkeit zu praktizieren. „Wir bringen unseren Kindern so viel Praktisches bei, zum Beispiel wie Maschinen funktionieren, aber nicht wie Gefühle funktionieren“, erklärt sie mir. Nur wenn Kinder wüssten, was sie gerade fühlten, könnten sie eigene Bedürfnisse erkennen.
Trautmann hat eine ganze Liste an Büchern, Podcasts, Ritualen zusammengestellt, seit sie Mutter ist. Nach und nach nutzt sie diese. Von ihr bekomme ich den Tipp zum Podcast „Mira und das fliegende Haus“, den ich mir gleich mit meiner Tochter anhöre. Im fliegenden Haus wohnt Mira mit einem sprechenden Kater und einer rappenden Maus. Die Podcastfolgen heißen „Die Wut ist unsere Freundin“ oder „Egal, was andere sagen“. Mira klingt am Telefon genauso wie im Podcast: Aufgekratzt und fröhlich, gleichzeitig sehr offen und ehrlich. Sie ruft mich aus ihrem Badezimmer an, auch im echten Leben hat sie gerade das Haus voller Kinder. Die alleinerziehende Mutter ist gelernte Musikerin und Musiktherapeutin. Im Podcast dreht sich alles um die „wirklich wichtigen Themen“, erklärt Mira: Den Umgang mit Gefühlen, Achtsamkeit, Selbstliebe, Nachhaltigkeit, Empathie, Diversity und Inklusion.
Miras Rat an Eltern in Coronazeiten: Natürlich müssten Eltern den Kindern vieles zur Coronapandemie erklären, weil es sie stark beschäftige. „Wir müssen uns auch bewusst machen, dass es coronafreie Zonen braucht, wie das fliegende Haus.“, erklärt sie. Ihr Podcast richtet sich an Kinder zwischen 4 und 11 Jahren. Ihr Rat an Eltern, auch gerade von älteren Kindern und Jugendlichen: „Es ist nie zu spät mit deinem Kind in Verbindung zu gehen und etwas zu verändern.“
Auch Familientherapeutin Anne Hackenberger empfiehlt, für Jugendliche so viel Toleranz und Verständnis wie möglich zu entwickeln. „Als Eltern sollten wir ein Gespräch auf Augenhöhe anbieten und sagen: Wie schaffen es zusammen.“
Systemische Coach Trautmann berichtet mir von Abendritualen für mehr Achtsamkeit. Erwachsenen empfiehlt sie ein Dankbarkeitstagebuch, in dem sie jeden Abend drei Dinge notieren, die gut gelaufen sind, für die sie dankbar sind. „Das geht bei Kindern genauso. Als Eltern können wir jeden Abend unser Kind fragen: Was war heute schön?“ So werde der Fokus auf das gelenkt, was da ist. Denn oft würden wir Negatives viel bewusster wahrnehmen als Positives. Seit einiger Zeit mache ich das mit meiner Tochter. Ich frage sie jeden Abend, was heute gut gewesen ist. Und ich schreibe ein Dankbarkeitstagebuch für mich. Denn Achtsamkeit als Familie beginnt mit Achtsamkeit für mich.
Dieser Artikel erschien am 1. April 2022 im Tagesspiegel.
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